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Mit Innovationsmut gelingt die Digitalisierung im Mittelstand : Datum:

Im digitalen Wandel sind Fach- und Führungskräfte mit frischen Ideen und Offenheit für Neues gefragt. Das InnoVET-Projekt „ZertEx-Abschlüsse“ will mit einem „Digital-Upgrade“ der Fortbildungen zum Industriemeister und zum Wirtschaftsfachwirt den Innovationsmut des mittleren Managements wecken. Lesen Sie, was es dafür braucht – und warum Programmierkenntnisse nicht dazu zählen.

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Fach- und Führungskräfte mit frischen Ideen und Offenheit für Neues gefragt: Die ZertEx-Lehrgänge bereiten darauf vor. Copyright: IHK Nord Westfalen/Möller

Eine sich rasant verändernde Welt stellt auch mittelständische Unternehmen vor enorme Herausforderungen: Lange Zeit erfolgreiche Geschäftsmodelle und Managementmethoden treffen auf die Digitalisierung – und stoßen häufig an ihre Grenzen. Zugleich eröffnen digitale Technologien Chancen auf vielen Gebieten. Während für viele Betriebe die Veränderungen noch nicht greifbar sind, bekommen andere Unternehmen die Auswirkungen der Digitalisierung in ungeahnter Schnelle und mit großer Wucht zu spüren. Gefragt sind daher: Fach- und Führungskräfte mit frischen Ideen und Offenheit für Neues.

Hier setzt das InnoVET-Projekt „ZertEx-Abschlüsse“ an. Sein Ziel: Ein „Mindset-Shift“ im mittleren Management, um dieser komplexen, digitalen und dynamischen Arbeitswelt gegenüberzutreten. Der Weg dahin: Die ZertEx-Lehrgänge als eine Art „Digital-Upgrade“ der Fortbildungen zum/zur Industriemeister/-in und zum/zur Wirtschaftsfachwirt/-in.

Was steckt dahinter? „Mindset-Shift meint, die Einstellung zu Innovationen, zu neuen Geschäftsmodellen und Arbeitsweisen zu verändern. Ich muss eine offene Einstellung mitbringen, um die neue Komplexität erfassen und den Herausforderungen begegnen zu können“, erklärt Ulli Tobias Schmäing von der IHK Nord Westfalen: „Mindset-Shift meint aber auch das Verhalten: Wie muss ich im Unternehmen handeln, wenn ich erkannt habe, dass mit der Digitalisierung eine Veränderungswelle auf uns zurollt?“

Innovationspotenzial des mittleren Managements entfalten

Das Projektteam ist außerdem überzeugt: Innovationsprozesse werden in Zukunft nicht mehr nur aus der Führungsetage angeschoben, sondern vermehrt aus dem mittleren Management. „Die Ebene unter der Chefebene hat ein unheimliches Innovationspotenzial. Mit den ZertEx-Lehrgängen wollen wir dieses Potenzial zur Entfaltung bringen“, sagt Ulli Schmäing und erklärt: „Die Ideen, die Mitarbeitende haben, die wollen wir rausholen“.

Damit das möglich ist, will das Projekt eine zentrale Fähigkeit zukünftiger Führungskräfte stärken: ihren Innovationsmut.

„Wer eine Idee hat, muss es schaffen, sie weiterzuentwickeln und gegenüber den Vorgesetzten zu kommunizieren“, sagt Schmäing. Ein Beispiel: „Wir nehmen an der Produktionsstraße dieses bremsende Element mal weg und schauen, ob das Produkt dann immer noch gut ist. Wenn das so ist, dann habe ich so einen Innovationsprozess in Gang gesetzt.“

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„Die Ebene unter der Chefebene hat ein unheimliches Innovationspotenzial. Die Ideen, die Mitarbeitende haben, die wollen wir rausholen.“

Ulli Tobias Schmäing, IHK Nord Westfalen

Sind also gar nicht Programmierkenntnisse die Schlüsselkompetenz, um die digitale Transformation zu meistern? Nein – das sagen jedenfalls die Unternehmen, die die Handelshochschule Leipzig für das Projekt befragt hat. Wichtiger sind demnach die Eigenmotivation der Mitarbeitenden und ihr Mut zur Veränderung. Da sich Wissen rasant erneuert, kann die Kenntnis einer Programmiersprache schnell wieder obsolet sein. Der Wille und die Fähigkeit zur Veränderung jedoch bleiben erhalten und befähigen dazu, mit immer neuen Herausforderungen umzugehen.

Digital-Upgrade für gefragte Fortbildungen

Diesen Innovationsmut zur Digitalisierung will das Projekt bei möglichst vielen Nachwuchskräften im Mittelstand wecken. Daher sind die ZertEx-Lehrgänge an die Fortbildungen zum/zur Industriemeister/-in und zum/zur Wirtschaftsfachwirt/-in (beides DQR 6) angedockt, die zu den am meisten nachgefragten Fortbildungen in Deutschland zählen. Angehende Wirtschaftsfachwirte sind kaufmännische Mitarbeitende im Büro, die den Aufstieg in eine Teamleitungs-Position im mittleren Management anstreben. Die zukünftigen Industriemeisterinnen und -meister arbeiten in produzierenden Unternehmen, wo sie nach erfolgreicher Fortbildung zum Beispiel eine Produktionsstraße leiten.

Gruppenfoto
Die ZertEx-Teilnehmenden aus dem Kurs Industriemeister/-in Metall der IHK Nord Westfalen in Münster und Katharina Schilling (rechts) bei der Exkursion ins FabLab. Copyright: IHK Nord Westfalen/Möller

Zum Unterricht der Fortbildungen zum/zur Industriemeister/-in (700 Stunden) und zum/zur Wirtschaftsfachwirt/-in (480 Stunden) über eineinhalb Jahre kommen nach der ersten Zwischenprüfung noch rund 80 Stunden des ZertEx-Lehrgangs hinzu. Einen zusätzlichen Abschlusstest gibt es derzeit nicht. Neben dem Nutzen für Beschäftigte und Unternehmen möchte das Projekt mit den ZertEx-Lehrgängen zeigen, wie Inhalte der höheren Berufsbildung zusammen mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden schneller aktualisiert und angepasst werden können.

Das neue Angebot stößt auf großes Interesse: Seit Oktober 2021 laufen die ersten ZertEx-Lehrgänge an den IHKs in Münster, Bielefeld und Lippstadt mit insgesamt 49 Teilnehmenden. Aus den laufenden Fortbildungen für Industriemeister/-in und Wirtschaftsfachwirt/-in konnten über 50 Prozent der Teilnehmenden für ZertEx gewonnen werden. Lara Breyer ist eine der ZertEx-Pionierinnen und hat sich, wie sie sagt, „aus Neugierde“ angemeldet. „Ich interessiere mich vor allem für Best-Practice-Beispiele zu Zusammenarbeit und Kommunikation im Team und wie Führung in der digitalisierten Arbeitswelt gelingt“, verrät die angehende Wirtschaftsfachwirtin.

Vier Lernmodule stärken Digitalkompetenzen

Der „Mindset-Shift“ soll in diesem ersten Durchlauf der Lehrgänge über vier Module gelingen: In Modul 1 geht es darum, Komplexität zu erfassen und zu erkennen, welche Herausforderungen sie an Selbstorganisation, Führung und Change Management stellt. In Modul 2 werden Flexibilität und Agilität als Antworten auf die neue Komplexität vorgestellt. Die Teilnehmenden lernen agile Methoden wie „Scrum“ und „Kanban“ kennen. Sie erleben außerdem, wie Lean Management und agile Führung helfen, der Komplexität zu begegnen.

In Modul 3 erfahren die Teilnehmenden, wie sie Daten sammeln, bewerten und anwenden. Auch digitale Etikette und digitale Tools im Zusammenhang von digitalem und kooperativem Arbeiten werden behandelt. In diesem Modul finden Unternehmens-Exkursionen statt, um Digitalisierung in der Praxis erlebbar zu machen. In Modul 4 lernen die Teilnehmenden zum Abschluss kreative Methoden zur Ideenfindung und Produktentwicklung kennen und entwickeln spielerisch Prototypen für Produkte. Wie die Kurse wirken, erfasst das Institut für Innovationsforschung und -management (ifi) der Westfälischen Hochschule, indem es die Teilnehmenden vor dem Start, nach Abschluss sowie drei Monate nach Lehrgangsende zu Digitalkompetenz, Selbstwirksamkeit und Innovationsmut befragt.

Gruppe am 3D-Drucker
Bei der Exkursion lernten die Teilnehmenden die Möglichkeiten des 3D-Drucks kennen. Copyright: IHK Nord Westfalen/Möller

Lerninhalte werden „in Echtzeit“ angepasst

Die laufenden Kurse finden überwiegend in Präsenz statt und bieten viel Raum für Erfahrungsaustausch und Selbstreflexion. „Unser Ziel ist es, so praxisnah und handlungsorientiert wie möglich zu sein und Dinge erlebbar zu machen“, erklärt Katharina Schilling von der IHK Nord Westfalen: „Es gibt viele Möglichkeiten zur Diskussion in Gruppen oder Tandems. Die Trainerinnen und Trainer bringen viele Praxisbeispiele ein.“

Die lebhafte Art der Kompetenzvermittlung schätzt die angehende Wirtschaftsfachwirtin Alexandra Bertels besonders: „Die vielen Praxisbeispiele und die praktischen Übungen tragen dazu bei, dass man sich den Inhalt gut merken kann, da man ein Erlebnis mit dem Thema verbindet. Wir werden als Gruppe von den Trainern einbezogen und es wird Raum gegeben, unsere Situation am Arbeitsplatz zu reflektieren.“ Die Arbeitgeber der ZertEx-Teilnehmenden haben deren Anmeldung zum Kurs unterstützt, zeigt sie doch die Eigenmotivation ihrer Mitarbeitenden.

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„Unser Ziel ist es, so praxisnah und handlungsorientiert wie möglich zu sein und Dinge erlebbar zu machen.“

Katharina Schilling, IHK Nord Westfalen

Eine Herausforderung und Besonderheit ist die fortlaufend stattfindende „Echtzeit-Kompetenzerhebung“: Damit die Lehrgangsinhalte stets aktuell bleiben und den Bedarf der Unternehmen decken, führt die Handelshochschule Leipzig jeweils zweimal jährlich Tiefeninterviews sowie Online-Umfragen durch. Es ist dann Aufgabe der DIHK-Bildungs-gGmbH, die das Curriculum und die Inhalte entwickelt hat, die Ergebnisse in den jeweils nächsten Lehrgangsdurchlauf zu integrieren.

Das InnoVET-Projekt ZertEx-Abschlüsse

  • Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen: Verbundkoordination, Öffentlichkeitsarbeit
  • DIHK-Gesellschaft für berufliche Bildung – Organisation zur Förderung der IHK-Weiterbildung mbH (DIHK-Bildungs-gGmbH): Curriculum und Lehrgangsinhalte
  • Westfälische Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen (WH), Institut für Innovationsforschung und -management: Evaluation
  • HHL Leipzig Graduate School of Management gGmbH: Kompetenzbedarfserhebung

Neues Szenario-Konzept ab Herbst 2022

Eine grundlegende Weiterentwicklung beim didaktischen Konzept gibt es ab den zweiten Durchläufen der Lehrgänge ab Herbst 2022. Um die Handlungsorientierung weiter zu stärken und den Transfer in den Arbeitsalltag zu erleichtern, finden diese nach einem Szenario-Konzept statt: Ein fiktiver Hersteller von Audio-Produkten hat die Digitalisierung und den Marktanschluss verpatzt. Die Teilnehmenden bekommen daher den Auftrag, als Abteilung „Digitalisierung & Innovation“ das Unternehmen neu auszurichten.

Der Lehrgang im Blended-Learning-Format setzt sich zusammen aus Präsenztagen, an denen die Simulation stattfindet, im Wechsel mit Online-Seminaren, Selbstlernphasen und Gruppenaufgaben. Ergibt die erwähnte „Echtzeit-Kompetenzerhebung“ einen akuten veränderten Bedarf der Unternehmen, kann dieser zum Beispiel über eine Art „Ereigniskarte“ ins Szenario integriert werden. „Das wird auch für uns und die Dozentinnen und Dozenten spannend“, freut sich Ulli Schmäing.

Nach diesem zweiten Durchlauf wird es noch einen dritten innerhalb der Projektlaufzeit geben. Der Rollout innerhalb der IHK-Organisation ist bereits gestartet: Die IHKs Siegen und Dortmund werden ZertEx ebenfalls zukünftig anbieten und bis 2024 sollen noch weitere Standorte hinzukommen. Grundsätzlich ist der Transfer an alle 72 fortbildenden IHKs in Deutschland möglich, und auch für Handwerksberufe eignet sich das ZertEx-Konzept aus Sicht der Projektpartner – damit in Zukunft noch mehr Innovationsmut und frische Ideen den Mittelstand in Deutschland stärken.

Autor: Benjamin Dresen